Stellungnahme: Nicht der Koran ist das Problem
Die Verteilung von Koranübersetzungen durch salafi-orientierte Muslime hat in den letzten Wochen für Schlagzeilen gesorgt. „Lies!“, so nennt sich das Projekt, hat eine Diskussion ausgelöst, die teilweise merkwürdig anmutende Blüten treibt. Auffällig ist dabei allerdings, dass die Debatte hierüber nicht nur Kritik seitens der Politik und nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaft deutlich machte, sondern auch inner-islamisch einen heftigen Meinungsaustausch entfachte, was sich insbesondere im Internet widerspiegelte.
Der Liberal-Islamische Bund e.V. sieht in einer Koran-Verteilung an sich eine positive Aktion, denn sie impliziert keine Provokation, sondern lädt die Menschen dazu ein, sich mit dem Islam – in Deutschland und der Welt – zu beschäftigen. Wenn man bedenkt, in welchem Licht der Islam bzw. die Muslime bei Nichtmuslime erscheinen, so kann eine Annäherung nur von Vorteil sein, um das derzeitige Bild erstens zu mildern, und zweitens auch zu verändern.
Die Panikmache, die von manchen Personen betrieben wird, ist bisweilen übertrieben. Dennoch sollte die Aktion der salafi-geprägten Muslimen nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Grundsätzlich dürfte von den meisten keine Gewaltbereitschaft ausgehen. Ungeachtete dessen halten wir es aber für problematisch, wenn hinter einer solchen Aktion eine Gruppierung steht, die (anscheinend) die alleinige Deutungshoheit über den Koran für sich beansprucht. Der Koran kann nicht ohne Erläuterungen und Erklärungen gelesen und verstanden werden, deshalb ist es nicht unbedingt produktiv, ihn in der Öffentlichkeit ohne eben diese Erklärungen zu verteilen. Augenscheinlich baut das Projekt darauf auf, dass InteressentInnen sich bei Fragen an die Verteiler wenden können.
Und eben auf diese Deutung und der damit verbundene Erklärung kommt es an, denn hier scheiden sich die Geister. Wenn z.B. seitens der Salafiten alle NichtmuslimInnen, hier vornehmlich die Angehörigen des jüdischen und christlichen Glaubens, als Ungläubige bezeichnet werden, so ist dies eine einseitige Interpretation des Korans, die von den meisten MuslimInnen nicht geteilt wird. Neben den vielen Stellen, die die sog. ahlu-l-kitab, die Völker der Schrift, im Koran hervorheben, heißt es dort auch u.a. in Sure 4, Vers 94 „O ihr, die ihr glaubt, wenn ihr auszieht auf dem Weg Allahs, so stellt erst gehörig Nachforschungen an und sagt zu keinem, der euch den Friedensgruß bietet: ´Du bist kein Gläubiger.`“
Die Aufklärungsarbeit, die in den eigenen Reihen nötig wäre, um sich dem Verständnis der koranischen Verse zu nähern, stellt eine Aufgabe dar, die alle MuslimInnen, die etwas davon verstehen, in gleicher Weise fordert. Nur so kann verhindert werden, dass die Unwissenheit vieler genutzt wird, um koranische Aussagen zu instrumentalisieren. Es ist Zeit, dass sich alle Organisationen dieser Diskussion nicht mehr verweigern, sondern sich für eine offene Herangehensweise an koranische Interpretationen einsetzen.
Statt Hysterie zuzulassen, sollte man aus dieser Situation lernen, sich zusammensetzen, Fragen stellen und für Aufklärung sorgen. Der Liberal-Islamische Bund e.V. möchte sich bemühen, bei Fragen ausführliche Antworten und Erklärungen zu geben. Er ist jederzeit zur konstruktiven Zusammenarbeit bereit.
April 2012