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Pressemitteilung zur „Anlauf- und Dokumentationsstelle Konfrontative Religionsbekundungen“ des Berliner Vereins DEVI e.V.

Tatsächlich oder vermeintlich religiös begründete Konflikte an Berliner Schulen sind von Zeit zu Zeit Gegenstand medialer Berichterstattung und führen in der Regel zu öffentlicher Erregung und zu erhitzten öffentlichen Debatten. Ob religiös begründete Konflikte an Berliner Schulen ein weit verbreitetes Phänomen oder Einzelfälle darstellen, ist ungeklärt. Der Berliner Verein Demokratie und Vielfalt in Schule und beruflicher Bildung (DEVI) e.V. beabsichtigt die Einrichtung einer staatlich geförderten „Anlauf- und Dokumentationsstelle Konfrontative Religionsbekundungen“, die in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert wird. Eine solche Stelle wird von der „Initiative PRO Berliner Neutralitätsgesetz“ gefordert, deren Sprecher Michael Hammerbacher Vorsitzender von DEVI e.V. ist und mit der das Projekt offensichtlich in Zusammenhang steht.

Aus Sicht des Liberal-Islamischen Bundes gilt: Bei der Beschäftigung mit religiös begründeten Konflikten dürfen gegebenenfalls vorhandene Konflikte weder aufgrund mangelnden Problembewusstseins oder falscher Toleranz ignoriert werden. Noch dürfen Probleme aufgrund fehlerhafter Analysen beziehungsweise verzerrter Realitätserfassung künstlich konstruiert werden. Erforderlich ist eine seriöse Erforschung des Themas nach wissenschaftlichen Standards, um auf Basis einer hinreichend fundierten Tatsachen- und Erkenntnisgrundlage tragfähige Entscheidungen treffen zu können.

Von diesen Maßstäben ausgehend kann das Vorhaben von DEVI e.V. nicht überzeugen und zwingt zu Kritik.

Fehlende Wissenschaftlichkeit

DEVI e.V. hat eine Studie mit dem Titel „Bestandsaufnahme Konfrontative Religionsbekundungen in Neukölln ‒ Vorabversion vorgelegt für das Bezirksamt Neukölln, Dezember 2021“ durchgeführt, um das Ausmaß religiöser Konflikte an Neuköllner Schulen zu ermitteln und mit der die staatliche Förderung der „Anlauf- und Dokumentationsstelle Konfrontative Religionsbekundungen“ beantragt werden soll. Die vorgelegte Studie ist in Wissenschaftskreisen begründeterweise auf vernichtende Kritik gestoßen, da es ihr in gravierender Weise an Wissenschaftlichkeit fehlt.

So hat DEVI e.V. mit Vertretungen, insbesondere Schulleitungen, von zehn Neuköllner Schulen Interviews geführt. In der Studie wird nicht offengelegt, nach welchen Kriterien die Auswahl der zehn Schulen erfolgt ist. Eine nachvollziehbare Begründung der Fallauswahl zählt jedoch zu den methodischen Essentialia einer jeden wissenschaftlichen Studie. Diese Intransparenz setzt die Studie dem Verdacht aus, dass mit einer bewusst tendenziösen Auswahl der zu befragenden Schulen ein erwünschtes Ergebnis vorweggenommen werden sollte. Wissenschaft ist jedoch die systematische und ergebnisoffene Suche nach der Wahrheit.

Des Weiteren wird behauptet, dass es sich bei den durchgeführten Befragungen um „halbstrukturierte leitfadenorientierte Tiefeninterviews“ gehandelt habe. Der angeblich verwendete Leitfaden wird jedoch in der Studie nicht offengelegt.

Als ein weiterer Verstoß gegen wissenschaftliche Grundsätze ist u.a. zu nennen, dass in dem Zeitraum der Studie (Oktober bis Dezember 2021) tatsächlich nur an acht Schulen Erhebungen stattfanden. Diese wurden sodann laut DEVI e.V. „ergänzt um Ergebnisse aus einer internen und thematisch vergleichbaren Befragung, die der DEVI e.V. berlinweit in der ersten Jahreshälfte 2019 durchgeführt hatte“ an zwei weiteren Neuköllner Schulen. Die zwei unterschiedlichen Erhebungen zu einer Einheit zusammenzufügen würde insbesondere voraussetzen, dass sie unter denselben Bedingungen und derselben Vorgehensweise entstanden sind. Dies muss als ausgeschlossen gelten:

So ist aufgrund der seit März 2020 vorherrschenden Pandemiesituation eine fundamental veränderte gesellschaftliche Situation eingetreten, die Situation Ende 2021 also offenkundig eine andere als die in der ersten Jahreshälfte 2019. Außerdem weisen mehrere Schulen darauf hin, dass im Hinblick auf religiös konnotierte Konflikte die Entwicklung der Situation in den letzten Jahren von einer erheblichen Dynamik geprägt gewesen sei, und zwar dahingehend, dass entsprechende Probleme teilweise zwar vor einigen Jahren vorhanden gewesen seien, inzwischen jedoch nicht mehr beziehungsweise deutlich abnehmend (S. 11; S. 17; S. 28; S. 29).

Dass beide Erhebungen mit derselben Vorgehensweise durchgeführt wurden, ist wiederum auch nicht dargelegt, zumal bereits die Darstellung des verwendeten Leitfadens in der Studie fehlt.

Die Verbindung der beiden Erhebungen zu einer Erhebungseinheit ist daher insbesondere aufgrund inkongruenter Sachlagen als unzulässig zu bewerten.

Eine Vielzahl weiterer schwerwiegender wissenschaftlicher Mängel beziehungsweise Fehler hat die Sozialwissenschaftlerin Dr. Susann Worschech (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder)) in ihrer Analyse „Pseudowissenschaft für das Bezirksamt?“ vom 06.01.2022 dargelegt. Ihr Verdikt:

„Die nun vorgelegte Vorabversion dieser ‚Bestandsaufnahme Konfrontative Religionsbekundungen in Neukölln‘, wie DEVI es nennt, ist (…) an Unwissenschaftlichkeit kaum zu überbieten.

(…) Um als Studie gelten zu können, müssten (…) grundlegende wissenschaftliche Standards erfüllt sein, die die Vorabversion jedoch nicht ansatzweise bietet – darüber hinaus aber sogar zahlreiche Fehler enthält.“

Die Analyse von Dr. Susann Worschech ist am Ende dieser Pressemitteilung als Anlage beigefügt.

Zahlreiche Wissenschaftler*innen haben sich der Kritik in dieser Stellungnahme vom 24.01.2022 angeschlossen.

Konzeptionelle Mängel

Neben der fehlenden Wissenschaftlichkeit sind erhebliche konzeptionelle Mängel bei dem Vorhaben festzustellen.

Bereits das Fundament des Vorhabens, nämlich die von DEVI e.V. formulierte zentrale Definition dessen, was nach DEVI e.V. unter „konfrontativer Religionsbekundung“ zu verstehen sei, ist mangelbehaftet. In der Projektbroschüre, mit der das Vorhaben konzeptionell vorgestellt wird, stellt DEVI e.V. als seine Definition die folgende vor: „Unter konfrontativer Religionsbekundung an Schulen verstehen wir religiöse Praxen sowie religiös konnotiertes (Alltags)Verhalten, die in der (Schul-) Öffentlichkeit ausgelebt und ausagiert werden, auf die Herstellung von Aufmerksamkeit zielen, provozieren wollen, erniedrigen und/oder Dominanz herstellen sollen.“ (S. 8)

Gemäß der asyndetischen (konjunktionslosen) syntaktischen Beiordnung von vier Definitionsmerkmalen im Relativsatz liegt nach dieser Definition bereits bei Vorliegen jedes einzelnen der vier Definitionsmerkmale der Tatbestand der konfrontativen Religionsbekundung vor. Dies vermag nicht zu überzeugen und widerspricht u.a. dem geltenden Verfassungsrecht.

Dass religiös motiviertes Verhalten auch in der (Schul-)Öffentlichkeit von der Religionsfreiheit grundsätzlich geschützt ist und ausgelebt werden darf, ist sowohl in der verfassungsrechtlichen Literatur als auch durch die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts anerkannt (siehe z.B. die „Kopftuch-Entscheidung“ des BVerfG für den Schulbereich, Beschl. v. 27.01.2015, Az. 1 BvR 471/10, bestätigt für den Bereich öffentlicher Kindertagesstätten: BVerfG, Beschl. v. 18.10.2016, Az. 1 BvR 354/11; ebenso: „Schulgebet-Entscheidung“ des BVerwG, Urt. v. 30.11.2011, Az. 6 C 20.10). Das Grundgesetz hat sich gegen ein laizistisches Verhältnis des Staates zu Religionen und für eine der Vielfalt an Religionen und Weltanschauungen gegenüber offene und übergreifende religiös-weltanschauliche staatliche Neutralität entschieden, welche Religionsausübung auch im (schul-)öffentlichen Raum grundsätzlich gewährleistet, da nur ein solches Neutralitätsverständnis der freiheitsrechtlichen Dimension der Grundrechte gerecht wird.

Das Streben nach Aufmerksamkeit und provokatives Auftreten als problematische Definitionsmerkmale aufzuführen, vermag ebenso wenig zu überzeugen, da dies zu jugendtypischen Verhaltensweisen zählt (siehe etwa das Tragen bestimmter subkulturspezifischer Kleidung durch Jugendliche, mit der provoziert und Aufmerksamkeit auf sich gezogen werden soll).

Problematisch wird es hingegen insbesondere dann, wenn religiös (oder weltanschaulich) begründet pluralitätsfeindliche und/oder andere Menschen abwertende Haltungen eingenommen werden und/oder die Grundrechte, insbesondere die Freiheitsrechte/Freiheitssphäre, von anderen Menschen und/oder sonstige Rechtsgüter (wie z.B. die staatliche Schulpflicht) verletzt werden. Als denkbare Beispiele hierfür können u.a. gelten: das Vertreten von antisemitischen oder queerfeindlichen Positionen, Abwertung und Mobbing andersgläubiger oder nicht gläubiger Schüler*innen oder Druck auf andere Schüler*innen, nach einem bestimmten Religionsverständnis zu leben, z.B. Druck zum Fasten (oder Nicht-Fasten) im Ramadan oder zum Tragen (oder Nicht-Tragen) des Kopftuchs.

Eine gründlich durchdachte und präzise formulierte Definition ist ein zwingendes Erfordernis, um zu verhindern, dass aufgrund unklarer oder zu weit gefasster Definitionsgrundlage Verhaltensweisen von Schüler*innen als „konfrontative Religionsbekundungen“ erfasst werden, die unproblematisch beziehungsweise rechtlich geschützt sind.

Nicht nur die Definition, mit der bei dem Vorhaben operiert wird, ist mangelbehaftet. In großen Teilen mangelhaft ist zudem das „Beweismaterial“ der Studie. So werden in der Studie in erheblichem Maße Sachverhalte als (vermeintliche) Belege für konfrontative Religionsbekundungen angeführt, bei denen kein Religionsbezug oder keine konfrontative Absicht ersichtlich ist. Zum Beispiel wird die Gruppenbildung entlang ethnischer Linien an einer Schule als Belegmaterial angeführt („Nur Araber dürfen beim Fußball mitspielen. Nur Türken dürfen mit ins Gebüsch.“, S. 13); oder die Äußerung eines Mädchens, das mit Blick auf den Syrien-Konflikt entlang ethnischer Gruppen von „Erzfeinden“ sprach (S. 12). Bereits die bloße Verwendung des arabischen Worts „Allah“ statt Gott gilt als problematisch (S. 11), obwohl dies für sich betrachtet, also ohne Hinzutreten weiterer Indizien, noch keine konfrontative Absicht in sich tragen muss. Ebenso soll das Tragen einer Unterhose beim gemeinschaftlichen Duschen problematisch sein (S. 16), obwohl ein solches Verhalten nicht in die Freiheitsrechte anderer Schüler*innen eingreift, sondern den höchstpersönlichen Bereich des eigenen Körpers betrifft. Entscheidungen von Schüler*innen, die deren Intimbereich betreffen, zu problematisieren und diesen gegenüber, von der eigenen normativen Überlegenheit ausgehend, eigene Vorstellungen von Sittlichkeit zu verabsolutieren, zeugt von einer autoritären Haltung der Studienautor*innen und stellt eine Übergriffigkeit in die individuelle Autonomie und Selbstbestimmung von jungen Menschen dar. Ein antiliberaler, autoritärer Säkularismus, der beansprucht, bis in den Intimbereich hinein normativ bestimmend eingreifen und eigene Vorstellungen von Sittlichkeit und Scham an die Stelle derjenigen der Schüler*innen setzen zu können, ist abzulehnen.

In vielen weiteren Bereichen der Studie werden Sachverhalte als relevante Befunde für konfrontative Religionsbekundungen angeführt, obwohl ein religiöser Bezug nicht ersichtlich ist, sondern stattdessen sozioökonomische und patriarchalisch-kulturelle Hintergründe den Rahmen bilden. Auf 46 Seiten kann die Studie nur wenige konkrete Einzelfälle benennen, die einen Religionsbezug haben. Nähme man die Studie von DEVI e.V. zur Grundlage der Meinungsbildung, müsste man schlussfolgern, dass substantielle Konfliktlagen mit religiösem Hintergrund kein weit verbreitetes Phänomen in der Berliner Schullandschaft sind.

Ein weiterer erheblicher Problempunkt der Studie ist, dass sie lediglich die Perspektive v.a. von Schulleitungen wiedergibt. Die Perspektive von Schüler*innen und Eltern findet keine Berücksichtigung. Dabei ist ein multiperspektivischer Blick zwingend notwendig, um eine hinreichend fundierte Erforschung von Konfliktlagen zu betreiben. Im Übrigen gilt es zu bedenken, dass die Sichtweise von Schulleitungen nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht zwingend repräsentativ und deckungsgleich ist mit der des Lehrer*innenkollegiums.

Als problematisch zu bewerten ist zudem, dass Aussagen von Interviewpartner*innen ohne kritische Würdigung als relevante Befunde präsentiert werden. Zwei Beispiele:

Die Aussagen einer Schulleitung wiedergebend schreibt DEVI e.V.: „Die Schulleitung könne auch keine Kolleginnen, die Kopftuch tragen, einstellen, selbst wenn sie den liberalsten und tollsten Unterricht leisten würden, denn die Wirkung des Kopftuchs als Symbol sei derart, dass Kolleginnen, die sich säkular kleiden, von den Schüler*innen als Schlampen beschimpft würden. Die Symbolkraft des Kopftuches stünde für traditionelle Lebensformen und nicht für aufstrebend-rebellische Kinder. Mehrere Lehrerinnen mit Kopftuch im Kollegium würden automatisch Kolleginnen ohne Kopftuch Probleme bereiten, ob sie es wollten oder nicht.“ (S. 35)

Des Weiteren wird von DEVI e.V. das folgende Zitat einer anderen Schulleitung den Leser*innen präsentiert: „Ich hoffe, wir erhalten die Neutralität. Keine Lehrerin mit Kopftuch hier. Auf keinen Fall, das sendet ja wirklich noch andere Signale. Man trägt ja auch keine anderen religiösen Symbole. Also, Schule ist staatlich. Das hat da nichts zu suchen.“ (S. 24)

Aussagen und Zitate werden in der Studie nicht ohne Sinn und Zweck aufgeführt. Welche konkreten Aussagen und Zitate aus dem umfangreichen Interviewmaterial ausgewählt werden und in der 46-seitigen Studie erwähnenswert sind, wird offenkundig danach entschieden, ob sie relevante Befunde darstellen. Dass DEVI e.V. derart ressentimentgeladene Aussagen über kopftuchtragende Frauen, die Frauen nach ihrer Kleidung statt ihrem Verhalten beurteilen und sie auf ihre Kleidung reduzieren, als relevante Befunde präsentiert, wirft erhebliche Fragen hinsichtlich des Wertefundaments von DEVI e.V. auf. Indem Aussagen und Verhalten von Frauen für irrelevant erklärt werden und sie auf ihre Kleidung reduziert werden, wird ihre Subjektqualität infrage gestellt und sie werden mithin zu Objekten degradiert. Dies greift die Würde von Frauen an.

Stattdessen ist kritisch zu hinterfragen, wieso die (auf Spekulationen beruhende, unbewiesene) These, dass kopftuchtragende Frauen Teil des Problems wären, zutreffend sein soll und nicht die Gegenthese zutreffen soll, dass kopftuchtragende Frauen mit vernünftigem Unterricht und konstruktivem Handeln, also durch verbales, erzieherisches und sonstiges toleranzförderndes Einwirken auf Schüler*innen, Teil der Lösung sein könnten und andere Signale als die von den Schulleitungen befürchteten senden könnten, zumal es in anderen Bundesländern bereits seit vielen Jahren kopftuchtragende Lehrerinnen gibt, ohne dass dies Probleme verursacht. Auch unsere kopftuchtragende liberale Imamin Rabeya Müller ist wegen ihrer langjährigen konstruktiven Arbeit mit Schüler*innen als Pädagogin bundesweit geschätzt (verwiesen sei z.B. auf diese Video-Dokumentation).

Video-Dokumentation über die pädagogische Arbeit unserer Imamin Rabeya Müller mit Schüler*innen

Zudem ist das von den Schulleitungen vertretene Verständnis von staatlicher Neutralität kritisch zu hinterfragen, da es von einem falschen Neutralitätsverständnis ausgeht. Es beruht offensichtlich auf einem laizistischen Verständnis, das vom deutschen Grundgesetz nicht vertreten wird. Denn ein laizistischer Staat ist gerade nicht neutral, da er Partei ergreift zugunsten von Areligiosität und sich von Religionen distanziert. Neutralität wird hingegen durch die Offenheit für die Pluralität der religiös-weltanschaulichen Anschauungen gewahrt. In den Worten des Bundesverfassungsgerichts:

„Der ‚ethische Standard‘ des Grundgesetzes ist (…) die Offenheit gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen angesichts eines Menschenbildes, das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung bestimmt ist. In dieser Offenheit bewährt der freiheitliche Staat des Grundgesetzes seine religiöse und weltanschauliche Neutralität“ (BVerfGE 41, 29 [50]). „Die dem Staat gebotene religiös-weltanschauliche Neutralität ist (…) nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen“ (BVerfGE 108, 282 [300]).

Dies bedeutet, dass sich die Vielfalt an Religionen und Weltanschauungen im schulischen Bereich grundsätzlich auch bei den Angestellten des öffentlichen Dienstes zeigen darf – in Lehrer*innen mit Kippa, Kopftuch, Kreuzkette, solchen, die keine Symbole tragen usw.

Zahlreiche weitere bedenkenswerte Kritikpunkte an der Studie beziehungsweise am Vorhaben werden in der bereits oben erwähnten Stellungnahme zahlreicher Wissenschaftler*innen vom 24.01.2022 sowie in dieser Stellungnahme von Prof. Dr. Werner Schiffauer vom 25.01.2022 aufgeführt.

Politische Interessenskonflikte

Nicht unberücksichtigt bleiben können schließlich die evidenten politischen Interessenskonflikte, die dem Projekt anhaften. Der Leiter von DEVI e.V., Michael Hammerbacher, ist Sprecher der „Initiative PRO Berliner Neutralitätsgesetz“, die für den Erhalt des verfassungswidrigen Berliner Neutralitätsgesetzes eintritt und die Einrichtung eines „Register[s] für die Erfassung und Dokumentation von Fällen konfrontativer Religionsbekundung und religiösen Mobbings an Berliner Schulen“ fordert (zudem sollen zwei DEVI e.V.-Angestellte in der Initiative engagiert sein). Die Forderung der „Initiative PRO Berliner Neutralitätsgesetz“ wird in der Projektbroschüre dezidiert verteidigt und das Vorhaben mithin in Zusammenhang mit ihr gestellt. In Verbindung mit den oben erwähnten zahlreichen Verstößen gegen elementare wissenschaftliche Grundsätze wie insbesondere der Nichtoffenlegung der Kriterien, nach denen die Auswahl der interviewten Schulen erfolgte (was den Verdacht einer bewusst tendenziösen Auswahl nahelegt), sowie der Intransparenz hinsichtlich des angeblich verwendeten Leitfadens, der sachwidrig weit gehaltenen Definition von „konfrontativer Religionsbekundung“ (so dass auch unproblematische Verhaltensweisen erfasst werden) und der Kategorisierung zahlreicher Sachverhalte ohne Religionsbezug als konfrontative Religionsbekundungen wird der Verdacht genährt, dass mit unlauteren Mitteln das Phänomen „konfrontative Religionsbekundungen“ möglichst groß erscheinen gelassen werden soll, um für den Erhalt des Berliner Neutralitätsgesetzes zu streiten, das Projekt also für politische Zwecke instrumentalisiert wird. Aus diesen Gründen kann das Projekt kein Vertrauen genießen.

Bei einem derart sensiblen Thema, das Jugendliche betrifft, muss nach wissenschaftlichen Standards gearbeitet werden und die Konzeptionierung mit höchster Präzision, Differenziertheit und Gründlichkeit erfolgen. Jegliche politische Interessenskollision und Verdacht der politischen Instrumentalisierung, wie hier, ist inakzeptabel und führt zu Vertrauensverlust.

Plädoyer für einen holistischen Blick

„Dass religiöse Konflikte an Schulen ernstgenommen und pädagogisch bearbeitet werden müssen, wann immer sie auftreten, steht außer Frage. Dass solche Konflikte ein weit verbreitetes Phänomen in der Berliner Schullandschaft darstellen, was die Einrichtung einer wie von DEVI e.V. vorgesehenen Dokumentationsstelle rechtfertigen würde, konnte durch die Studie von DEVI e.V. nicht belegt werden“, sagte Mona Feise-Nasr, Sprecherin der Berliner Gemeinde des Liberal-Islamischen Bundes. „Eine Dokumentationsstelle, die sich im Wesentlichen auf konfrontative Religionsbekundungen von Schüler*innen konzentrieren würde, wäre auch wenig sinnvoll. Die Einrichtung einer von politischen Interessenskonflikten freien und nach seriösen wissenschaftlichen Standards arbeitenden unabhängigen zentralen staatlichen Beschwerde-, Anlauf- und Beratungsstelle, die jegliche Fälle von Mobbing und Diskriminierungen in der Schule sowohl seitens Schüler*innen als auch seitens Lehrer*innen bearbeitet, erscheint sinnvoller. Denn: Laut Untersuchungen stellen antimuslimische Diskriminierungen, auch seitens Lehrer*innen und Schulleitungen gegen Schüler*innen, ein ernstzunehmendes Problem dar. Eine unabhängige Stelle, die neben problematischen Verhaltensweisen von Schüler*innen auch problematische Verhaltensweisen von Lehrkräften und Schulleitungen in den Blick nimmt und eventuell existierende Kausalitäten, Wechselwirkungen und Interdependenzen zwischen beiden Phänomenen analysiert, hätte einen erweiterten, holistischen Blick und könnte eher zu fundierten Lösungen gelangen als eine sich selektiv im Wesentlichen auf ein Phänomen beschränkende Stelle, deren Blick verengt ist. Nur eine holistische Betrachtung wird der häufig festzustellenden Komplexität von Konfliktlagen hinreichend gerecht.“

DER VORSTAND, 09.05.2022

Anlage

Im Folgenden die Analyse „Pseudowissenschaft für das Bezirksamt?“ vom 06.01.2022 der Sozialwissenschaftlerin Dr. Susann Worschech (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder)).

Anmerkung: Die Analyse wurde von Dr. Susann Worschech als Verständnishilfe für anfragende Medienvertreter*innen verfasst, die um eine Bewertung der Studie von DEVI e.V. aus wissenschaftlicher Sicht baten. Sie wird hier mit freundlicher Genehmigung der Autorin geteilt.

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