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Das Dilemma der Distanzierung – Stellungnahme von Nushin Atmaca, 1. Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes e.V.

Fast täglich werden wir mit Meldungen über islamistisch motivierte Anschläge konfrontiert, die in Afrika, in Amerika, in Asien, in Australien, in Europa ausgeführt werden. Jeder dieser Anschläge erschüttert uns aufs Neue. Unsere Gebete und Gedanken gelten den Opfern, den Toten und Verletzten, sowie ihren Familien und Angehörigen.

 
Die religiöse Legitimation, die für diese Verbrechen herangezogen wird, verurteilen wir ausdrücklich und aufs Schärfste. Sie spiegelt eine fanatische und fundamentalistische Lesart unserer religiösen Texte wider, die die Welt in Gut und Böse einteilt, und die wir ablehnen. Wir erkennen im Koran eine Botschaft des Friedens und der Versöhnung, der Toleranz und der Vielfalt, die wir leben, für die wir uns einsetzen und die wir verteidigen. Dies ist für uns selbstverständlich, aber dieser Selbstverständlichkeit scheinen nicht alle in unserem Land Glauben zu schenken.


Es hat sich eine Erwartungshaltung unserer Gesellschaft gegenüber islamischen Vereinen und Verbänden sowie muslimischen Personen des öffentlichen Lebens herausgebildet, die bei jedem Terrorakt, der in der westlichen Welt verübt wird, eine Distanzierung verlangt. Diese Erwartung mag auch darin begründet liegen, dass sich einige muslimische Personen ambivalent oder sogar wohlwollend in Bezug auf mörderische Attentate geäußert haben. Dennoch birgt sie ein Dilemma:


Durch die Distanzierung betonen wir das Selbstverständliche und rauben ihm im selben Moment die Selbstverständlichkeit. Wir festigen damit einen Diskurs des Misstrauens, der Muslimen grundsätzlich eine Nähe zu extremistischen Auffassungen unterstellt. Diesen Diskurs lehnen wir jedoch ab. Wir vertreten die Auffassung, dass es nicht erklärungswürdig, sondern selbstverständlich ist, dass Muslime keine radikalen Ansichten vertreten – erklärungswürdig ist der Extremismus, nicht die Selbstverständlichkeit. Dabei erkennen wir gleichzeitig an, dass es in unseren religiösen Texten Passagen gibt, die – wortwörtlich verstanden – Andersgläubige abwerten und zur Gewalt aufrufen. Der Umgang mit diesen Stellen wird und sollte weiterhin innerhalb der muslimischen Community thematisiert werden.

 
Reicht es zu sagen, dass diese Textteile im historischen Kontext betrachtet werden müssen, oder müssen wir einen anderen Umgang mit ihnen finden, um deutlich zu machen, dass sie keine Botschaft für unsere Gegenwart und unser Zusammenleben enthalten? Gleichzeitig stehen wir vor einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, wenn wir sehen, dass die prekäre Situation einiger Menschen ausgenutzt wird, um sie zu Attentätern umzufunktionieren. Daneben drängt uns eine Distanzierung fortwährend in eine apologetische Position: wir distanzieren uns von Attentaten, um im selben Moment darauf aufmerksam zu machen, dass unsere Religion und wir als ihre Angehörigen eine Daseinsberechtigung haben. Wir verurteilen die religiöse Legitimation von Anschlägen und Angriffen und weisen im selben Atemzug darauf hin, dass genau diese von rechtspopulistischen und rechten Akteuren genutzt wird, um Stimmung gegen eine religiöse Minderheit zu schüren. Dies erscheint im Angesicht der Gewalt und des Terrors unpassend, wenn nicht sogar unwürdig, und gleichzeitig scheint uns nichts anderes übrig zu bleiben, wenn wir darauf hinweisen wollen, dass es sich bei gewaltbereiten Muslimen um eine Minderheit handelt, die weder die Mehrheit der Gläubigen noch die Botschaft der Religion repräsentiert, sondern stattdessen durch ihr Denken und Handeln Tod und Leid verursacht sowie eine Saat des Misstrauens und des Hasses sät.


Von diesen Menschen möchten wir uns nicht diktieren lassen, wann wir uns wie äußern. Wir fühlen uns jenen fremd, die im Islam eine Ideologie der Herrschaft und der Gewalt sehen, die sich das Recht herausnehmen, über das Leben anderer zu urteilen und zu richten und die in ihrem Fanatismus töten und morden. Im Gedenken an diejenigen, die diesem Hass zum Opfer gefallen sind, und aus Liebe und Wertschätzung zu uns Menschen, die wir alle zur Schöpfung Gottes zählen, leben wir eine friedliche, tolerante und barmherzige Lesart unserer Religion, die für uns eine Selbstverständlichkeit darstellt und die wir als solche auch anderen, Muslimen und Nichtmuslimen, vermitteln.

Nushin Atmaca, 29.09.16

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